Dieser Artikel ist ein Auszug eines Interviews, das der Arbeitskreis Israel mit Anatoli Uschomirski geführt hat. Wir bedanken uns für die Erlaubnis, Teile für unseren Einblick verwenden zu dürfen.
Sehr geehrter Herr Uschomirski!
Sie sind Jude, Sie sind messianischer Jude und leben in Deutschland, wie lange schon?
Ich lebe mit meiner Familie seit 24 Jahren in Deutschland.
Sie stammen ursprünglich aus der Ukraine. Warum der Umzug nach Deutschland und nicht nach Israel? Und wie ging es Ihnen in der Anfangszeit in Deutschland?
Zunächst, warum haben wir überhaupt unsere Heimat verlassen? Der erste Grund war der wachsende Antisemitismus in der Ukraine. Nach der Perestrojka ging die Wirtschaft in der Ukraine kaputt. Man suchte nach den Schuldigen und nach jahrhundertelanger verwurzelter Tradition, waren die Schuldigen oft Juden. Man sprach über bevorstehende Pogrome. Wir als Familie haben uns für die Ausreise nach Israel vorbereitet. Wir haben auch Hebräischsprachkurse besucht. Aber Gott hat die Umstände dramatisch verändert und so kamen wir nach Deutschland. Der zweite Grund für unsere Ausreise war die wachsende Bedrohung aus Tschernobyl. Wir wollten unser Kind einfach aus diesem Schlamassel wegbringen. Der Anfang in Deutschland war nicht leicht. Wir konnten kein Wort Deutsch und unsere Berufe waren für dieses Land nicht optimiert. (Meine Frau und ich sind beide Fotografen von Beruf). Auf der anderen Seite hat uns der Herr nie in Stich gelassen. Immer wieder schickte Er uns die Leute, die uns unterstützten und uns geholfen haben. Ich habe es ausführlich in meinem Buch: Hilfe Jesus, ich bin Jude beschrieben.
Sie sind als Jude aufgewachsen und haben irgendwann Jeshua als Messias für sich entdeckt. Wie kam es dazu und wie reagierte Ihr Umfeld, d.h. die Familie, die Freunde?
In meiner Kindheit erlebte ich Antisemitismus in der Schule und später in der Gesellschaft. Ich stellte mir und meinen Eltern Fragen über meine Identität, und bekam darauf keine befriedigenden Antworten. Später trugen meine Fragen mehr existenziellen Charakter: Warum bin ich als Jude geboren? Gibt es einen Sinn in unserem Leben? Was passiert nach dem Tod? Ich suchte die Antworten im Buddhismus und in Yoga, habe auch die westeuropäischen Philosophen gelesen, aber meine Seele blieb leer. Und dann hat Gott mich selbst gefunden. Durch das Lesen eines Buches kamen meine Frau und ich in eine messianische Gemeinde in Kiew. Dort haben wir erkannt, dass Jesus ein Jude war, dass er als Messias in der ersten Linie zu seinem Volk kam, und wenn wir als Juden an ihn glauben, bleiben wir Juden und verraten nicht unser Volk. Wir haben uns damals entschieden, dem Messias Jeschua nachzufolgen. Wir waren die einzigen in unserer Familie, die zum Glauben an Jeschua gefunden haben. Später kamen auch meine Schwiegereltern zum Glauben. Meine Familie blieb neutral gegenüber meinem Glauben. Meine Mutter dachte, es wird die Zeit vergehen und ich werde meinen Glauben vergessen. Nur mit der Zeit merkte sie, dass es mir sehr wichtig war, meinen Glauben zu leben. Was sie überzeugt hat, war die Tatsache, dass mein Eheleben viel besser und erfolgreicher wurde.
Wie sind die Kontakte zu den messianischen Gemeinden in Israel? Oder in den benachbarten Ländern in Europa? Gibt es Netzwerke?
Die meisten messianischen Gemeinden in Deutschland pflegen einen regen Kontakt mit den messianischen Gemeinden in Israel. Wir besuchen uns gegenseitig und laden einander zu den Konferenzen als Sprecher ein. In Europa haben wir besonders die Kontakte mit russischsprechenden messianischen Gemeinden im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Evangelische Kirche und Messianische Juden, ein belastendes, ein belastetes Thema. Beim Evang. Kirchentag sind Sie nicht willkommen. Können Sie uns etwas zu dem Hintergrund dafür sagen?
Ich kenne mehrere christliche Gemeinden, die einen regen Kontakt mit messianischen Gemeinden haben. Viele Christen besuchen regelmäßig unsere Gottesdienste und pflegen persönliche Kontakte mit uns. Es gibt kaum Interesse von Seiten der offiziellen Kirchen. Trotzdem versuchen einige Pfarrer und Pastoren, Kontakte auf der persönlichen Ebene aufzubauen. Meines Wissens ist die Lage in Baden-Württemberg am besten. Das zeigte auch der letzte Kirchentag in Stuttgart. Die messianischen Gemeinden wurden zwar ausgeladen. Trotzdem kamen hunderte Kirchentagsbesucher zu unserem offenen Gottesdienst, um ihre Solidarität mit uns zum Ausdruck zu bringen.
Haben Sie den Eindruck und die Hoffnung, dass sich etwas ändert?
Auf jeden Fall! Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, wollten von Anfang an viele Christen das nicht wahrnehmen. Aber im Laufe der Zeit haben mehrere das als eine erfüllte Prophetie gesehen. Ich denke, selbst gegenüber der Tatsache, dass nach 17 Jahrhunderten die messianische Bewegung wiedergeboren wurde, können Christen nicht gleichgültig bleiben. Sonst steht die christliche Kirche wieder in der Gefahr, die unheilvollen Wege einzuschlagen.
Sie haben in einer Sendereihe beim Evangeliumsrundfunk das Judentum, das messianische Judentum näher beleuchtet. Sie halten Vorträge, sind in Seminaren. Wie wichtig sind diese Kontakte in den Bereich der Kirchen hinein?
Ich glaube, die christlichen Kirchen und Gemeinden sollten langsam begreifen, dass sie auf dem edlen jüdischen Ölbaum eingepfropft worden sind. Und dass sie ohne den jüdischen Hintergrund die Bibel in ihrer ursprünglichen Bedeutung nie verstehen werden. Darin sehe ich einen Großteil meines Auftrags, diese Aufklärungsarbeit zu leisten.
Die Kirche sah sich lange als das wahre Israel, wir kennen die Ersatztheologie mit all den schrecklichen Facetten. Hat sich die Kirche Ihrer Meinung nach wirklich geändert oder schlummert dieser alte Antisemitismus noch unter den Kirchenbänken?
Ich glaube, dass der christliche Antisemitismus in einer oder anderen Form noch lange nicht besiegt ist. Dafür muss ein neuer Zugang zu den biblischen Texten geschaffen werden. Christen müssen aufhören das sogenannte Alte Testament durch die Brille des Neuen Testaments zu lesen, sondern umgekehrt. Die Pfarrer und Theologen müssen die jüdische Exegetik und Hermeneutik studieren und den Normalsterblichen muss die Liebe zum Gottesvolk gepredigt und geimpft werden.
Was ist der Unterschied zu der sog. Befreiungstheologie, die vor allem bei arabischen Christen – z.B. den palästinensischen Christen – beliebt ist?
Die Befreiungstheologie ist heute sehr populär unter palästinensischen Christen. Die Wurzeln liegen in der alten Ersatztheologie. Es ist bequem in Jesus nicht einen Juden, sondern einen Befreiungskämpfer oder sogar einen Palästinenser zu sehen. Die Werte solcher Theologie sind aber nicht die biblischen, sondern die Werte der Aufklärung. Das ist den meisten Christen die die sog. Befreiungstheologie unterstützen nicht bewusst. Sie werden leider von der Propaganda irregeführt.
Wenn man die Unterschiede zwischen dem Judentum und Christentum betrachtet und die messianischen Gemeinden als eine Art Bindeglied, in welchen Bereichen hapert es dann beim gegenseitigen Verständnis am meisten?
Ich denke, die messianischen Juden sind bereit, Christen als ihre Geschwister zu akzeptieren und mit Ihnen eine Gemeinschaft zu pflegen. Andererseits beobachte ich, wie Christen schwer begreifen können, dass die messianischen Juden ihre Berufung und ihren eigenen Weg im Heilsplan Gottes haben. Sie wollen immer bessere Christen aus uns machen. Dem größten Schisma (Trennung) in der Kirchengeschichte, der Trennung zwischen Christen und Juden kann nur durch unseren gemeinsamen Glauben an Jeschua begegnet werden. Das Leitmotiv ist: Jeschua ist unser Schalom (Eph.2,14). Ich wünsche mir, dass auf dieser Basis die Zusammenarbeit wiederbelebt wird und dass die Einheit zwischen messianischen Juden und Christen für viele Menschen zum Merkmal des Reiches Gottes wird.
Es gibt Christen, die sehen das sog. „Neue Testament“ als den einzigen Teil der Bibel an, den sie zu beachten haben, der für sie gilt. Manche akzeptieren sogar nur die Evangelien. Damit fehlt aber die Wurzel. Was sagen Sie solchen Menschen? Hat sich hier in den letzten Jahren eine Veränderung ergeben? Und wenn ja, in welche Richtung?
Diese Entwicklung ist nicht neu. Schon im 3. Jh n. Chr, hat Marcion verkündet: der Gott des Alten Testaments ist ein böser und der Gott des Neuen Testaments ein Gnädiger. Und er hatte mit seiner Sicht der Bibel einen sehr großen Erfolg unter vielen Christen gehabt. Jesus, seine Jünger und Paulus haben kein Neues Testament gehabt. Die hebräische Bibel war ihr Glaube und es war für sie völlig ausreichend, um mit Gott aufrecht zu wandeln. Das müssen wir heute alle verstehen. Das Neue Testament ist wichtig, aber ohne die Schriften des TeNaCH (das s.g. Alte Testament) haben wir nur einen Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen. Die Story muss von Anfang an gelesen werden. Wenn ein Baum von seinen Wurzeln abgeschnitten wird, dann stirbt er. Es ist für mich ein Wunder, dass das Christentum überhaupt noch lebt. Wahrscheinlich hat Gott eine besondere Gnade für Christen! Die Gemeinde der Heidenchristen ist eingepfropft in den jüdischen Ölbaum und lebt von seiner Fettigkeit. Die Grundlagen des christlichen Glaubens kommen vom Volk Israel. Das Judentum ist die Wurzel des Christentums. Ohne das Judentum gäbe es kein Christentum. Ohne die in Römer 9, 4-5 aufgeführten Gaben ist das Christentum nicht denkbar: von der Vater-Kind-Beziehung zu Gott angefangen bis zur Herrlichkeit Gottes bis zu den Bündnissen, allen voran der neue Bund, auf den sich das Christentum bezieht. Des Weiteren gehören dazu die Tora (das Gesetz), der Gottesdienst, die Verheißungen und die Väter, die Glaubensväter für den christlichen Glauben sind. Und zu guter Letzt Jesus Christus, ohne den es das Christentum nicht gäbe. Christen müssen sich dieser jüdischen Wurzeln bewusst werden.
Was ist Ihre Hoffnung für die Zukunft in der Zusammenarbeit, dem Zusammenleben der einzelnen Religionen, aber auch speziell für das Judentum und Christentum?
Ich glaube, dass Juden und Christen mehr zusammenrücken müssen. Als Christen und Juden gehören wir zusammen. Ich spreche jetzt über ein Gespräch auf einer Augenhöhe, ein offenes Gespräch ohne Angst vereinnahmt zu werden. Und wir müssen unbedingt die Messiasfrage in dieses Gespräch bringen. Dadurch werden wir eigentlich nicht viel Neues erfinden. Viele jüdische Gelehrte haben sich nicht gescheut mit den Christen über den Messias Jeschua zu reden. Für solche jüdischen bekannten Leute wie Leo Beck, Schalom ben Chorin, David Flüsser, Martin Buber, Joseph Klausner, Schalom Asch, Pinchas Lapide war Jeshua kein Fremder. Aus solchen Erfahrungen müssen wir gemeinsam schöpfen.
Was können „heidenchristliche“ Gemeinden von messianischen Juden lernen?
1. Jesus als Jude zu verstehen.
2. Die Bibel als Einheit zu begreifen und das s.g. „Alte Testament“ schätzen zu lernen.
3. Das Neue Testament aus einer jüdischen Perspektive zu lesen.
4. Die hebräische Exegese und Hermeneutik für sich zu entdecken und dadurch Gottes Wort besser zu verstehen.
Anatoli Uschomirski
ist Autor des Buches „Den Juden zuerst“