Manchmal passiert es, leider. Da gibt es eine Meinungsverschiedenheit. Ärger steigt hoch, weil der oder die andere immer recht haben will. Ein Wort ergibt das andere, bis plötzlich derart dicke Luft herrscht, dass es nicht mehr auszuhalten ist. Vielleicht knallt eine Tür oder es bleibt nur noch die Flucht nach draußen, ins Freie, an die frische Luft.
„O je, wie konnte das nun passieren? Aber es ist doch unglaublich, was da wieder abgelaufen ist! …“ Vielleicht können Sie liebe Leserin, lieber Leser diesen Dialog mit sich selbst aus eigener Erfahrung fortsetzen.
Wenn der Ärger, die Empörung etwas nachlässt und wieder Nüchternheit einkehrt, dann kann es geschehen, dass eine Einsicht über das eigene Fehlverhalten sich meldet. Es könnte einem sogar dämmern: „Oh, was hab ich da angerichtet? Welche Worte sind mir da über die Lippen gekommen – wenn die jemand zu mir selbst gesagt hätte?“
So kann die Einsicht wachsen, den oder die andere mit Worten tief verletzt zu haben. Das kann einem dann selbst das Herz schwer machen – vor allem, wenn es gegenüber einem Menschen geschehen ist, der einem lieb ist. Wie soll ich ihm oder ihr wieder begegnen, unter die Augen treten?
Es gibt dazu wohl nur den Weg, den Fehler einzugestehen und um Vergebung zu bitten. Das kratzt aber am eigenen Image – oder doch nicht?
Standortwechsel, Änderung der Blickrichtung: Wie ist das, wenn mir selbst solche Worte an den Kopf geworfen werden, wenn ich zu Unrecht beleidigt werde? Was mache ich, wenn ich der Dumme bin, wenn ich mit bösen Absichten auf die Seite geschoben werde? Wie gehe ich mit Menschen um, die so scheinheilig oder ungerecht – oder beides – mir das Leben schwermachen?
Auch hier spielt das Thema Vergebung eine entscheidende Rolle.
Mir kommen Szenen aus meiner Zeit als Jugendlicher in den Sinn. Meistens bei den Mahlzeiten hatte es immer wieder Diskussionen mit meinem Vater, manchmal auch mit meiner Mutter gegeben. Politische Fragen, aber auch, wie man sich gegenüber anderen verhält, um Kleidungs- und Frisurfragen usw. ging es oft. Immer wieder gab es dabei dicke Luft. Es konnte auch ungemütlich laut werden – von beiden Seiten. Später, im Alter von 24, 25 Jahren lebte ich ein Jahr lang in einer christlichen Kommunität. In dieser Gemeinschaft erlebte ich zum ersten Mal gewinnbringend eine seelsorgerliche Begleitung. Eine Lebensbeichte gehörte dazu. Mir war klar geworden, dass ich meinen Eltern einen Brief schreiben sollte. Sowas hatte ich noch nie gemacht. Es hat mich Überwindung gekostet. Darin habe ich mich bedankt für all ihre Mühe um mich – und um Vergebung gebeten für meine verletzenden Verhaltensweisen und Worte ihnen gegenüber. Ab diesem Brief war eine Erleichterung in mir spürbar, was das Verhältnis zu meinen Eltern angeht. Sie hatten sich sehr darüber gefreut. Ab da war unser Miteinander von einer freien Atmosphäre geprägt, auch bei Meinungsunterschieden.
Die Frage der Vergebung ist in so vielem der Schlüssel für Frieden im eigenen Herzen und für ein gutes Miteinander. Sie hat zutiefst mit Gott zu tun. Wenn uns klar wird, wie Gott ist, wie er uns und seine ganze Schöpfung sieht, dann ändert das unser Leben von Grund auf. Der Glaubensblick auf ihn, besonders im Zusammenhang des Geschehens am Kreuz auf Golgatha und der Auferstehung Jesu, ist dazu entscheidend.
Was passiert da? Jesus, der Sohn Gottes, der einer von uns geworden war, aber absolut unschuldig, ohne Sünde, wird ausgeliefert und hingerichtet. In aller Öffentlichkeit geschieht das. Damit wird in jener religiösen Welt vor aller Augen dokumentiert, dass er ein von Gott Verfluchter ist! So gibt es für ihn kein Recht mehr zu leben, auch, weil die weltliche Macht ihr Urteil spricht. Und dann sagt er: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Unfassbar!
Auch Stephanus, der Nachfolger Jesu, der wegen seines Zeugnisses für Jesus gesteinigt wurde, ging mit derselben Haltung in den Tod. Vor den Ohren seiner Mörder rief er mit lauter Stimme: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Wie konnte er nur so sprechen? Warum war er in der Lage, angesichts schlimmsten Unrechts denen zu verzeihen, die ihm mit Lug und Trug und aus tiefstem Hass sein Leben nahmen?
Wenn uns aufgeht, was der Tod Jesu am Kreuz bedeutet, dann öffnet sich die Tür zur Fähigkeit, vergeben zu können. Jesus selbst und Stephanus kannten die Verse aus dem Propheten Jesaja (Jes 53,4-6): „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.“
In der Feier des heiligen Abendmahls wird uns das gegenwärtig und zugesprochen: „Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ Der Apostel Paulus bringt es auf den Punkt, als er im Römerbrief das Geschehen am Kreuz und die Auferstehung Jesu in ihrem Zusammenhang benennt und deutet (Röm 4,25): „… welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt.“ Das ist die Wirklichkeit in unserer Welt, die alles grundlegend verändert hat und bis heute verändert. „Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“ (Kol 1,19+20)
Versöhnt leben, wegkommen von dem Drang, nur auf sich und das eigene Recht zu pochen und vergeben zu können – diese Haltung wird uns von Jesus selbst geschenkt. Wie ein Samenkorn wird es in uns gelegt, wenn wir unser Herz für ihn öffnen. In dieser lebendigen Beziehung zu ihm zu leben, ermöglicht das Wachsen dieses Samens. Diese Beziehung zu pflegen ermöglicht in uns die Wandlung hin zu einem Menschen des Friedens und der Liebe. Dann werden andere um uns herum immer mehr erkennen, dass die Quelle dafür in Gott liegt, dass wir als von Jesus Beschenkte dazu in der Lage sind.
Ex-Gesundheitsminister Spahn hat gesagt: „Wir werden uns am Ende der Pandemie viel zu verzeihen haben.“ Ja, das stimmt. Und in Jesu Namen wollen wir es auch tun – jetzt schon, denn es heißt auch: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ (2Kor 6,1+2). Dazu passt der Rat: „Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.“ (Eph 4,26) Empörung und Zorn sollten nicht maßgeblich sein und sich in uns festsetzen. Vergebung, vorauslaufende Gnade oder das günstige Vorurteil den anderen gegenüber bringen den Wohlgeruch des Friedens ins Spiel. Jesus macht es uns vor und will es in uns bewirken. Daran dürfen wir uns gewöhnen!
Walter Goll