Israel – und wir

Liebe Leserinnen und Leser,

Israel ist ein Thema, das spaltet, das aufregt, das zugleich fasziniert und das kompliziert ist. Aber es ist, wenn wir die Bibel als Gottes Wort verstehen, unser Anliegen. Warum? Weil es Gottes Anliegen ist. Mit der Berufung Abrahams ging es los, dass Gott sich ein Volk auserwählen und es segnen wollte, um letztlich alle Menschen wieder zurück in seine Gemeinschaft zu bringen. Israel war nicht besonders und ist nicht besonders, wenn wir es mit anderen Nationen vergleichen. Und genau das sagte Gott auch: Nicht weil ihr alle Völker an Zahl übertrefft, neigte der Herr sich zu euch und erwählte euch- denn ihr seid das kleinste unter allen Völkern-, sondern weil der Herr euch liebte und weil er den Schwur halten wollte. (5. Mose 7,7)

Das Besondere an Israel hat in erster Linie nichts mit Menschen zu tun, sondern mit Gott und seiner Wahl. Und diese Wahl ist Israel Segen und Fluch zugleich, seit dieses Volk existiert. 

Viele Christen denken, dass sich das mit Israel doch mit Jesus erledigt hat. Seit Jesus sind alle Menschen auf der ganzen Welt von Gott angesprochen und das neue Volk Gottes ist die Kirche – also alle Christen weltweit, die an Jesus glauben. Israel hat seine Zeit gehabt. Wir brauchen ihm keine Bedeutung mehr beizumessen. Ich muss sagen, dass ich tendenziell auch insgeheim so gedacht habe, aber ich bin eines Besseren belehrt worden. Abgesehen von alttestamentlichen Aussagen, dass Gott sein Volk für immer erwählt hat, gibt uns auch Paulus im Römerbrief klar zu verstehen: Ich frage nun: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Keineswegs! Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat. (Röm 11,1.2)

Gleichwohl die Gemeinde Jesu, die Christen, Gottes auserwähltes Volk sind, wie es der Apostel Petrus (ein Jude) und auch der Apostel Paulus (ebenfalls Jude) schreiben (1. Petr.2,9; Kol 3,12).

Die Kirche ist nicht an Israels Stelle getreten und ersetzt auch nicht Gottes erstes Volk, sondern Gottes Volk besteht aus zwei Teilen: einem national-biologischen jüdischen Teil und einem multinationalen geistlichen Teil – vergleichbar mit einer Münze aus Vorder- und Rückseite mit zwei verschiedenen Prägungen.

Ich selbst durfte im Jahr 2022 an der Klagemauer in Jerusalem eine Erfahrung mit einem streng orthodoxen Juden machen, die mich tief berührt und mein Verständnis geöffnet hat.

Als ich mich dort aufhielt, sprach mich ein Mann an, ich solle bitte das Kreuz herunternehmen, das ich trug. Ich schaute ihn an und antwortete auf Englisch: „Ich liebe deinen Gott. Und ich möchte das Kreuz nicht abnehmen.“ Daraufhin erklärte mir der Jude, dass das viele hier irritieren würde, weil die Christen den Juden viel Schmerz und Leid bereitet haben. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie sehr die Christen tatsächlich durch die lange Geschichte hindurch an den Juden schuldig geworden sind. Eben auch wegen einer unsäglichen falschen Theologie, die von großen Kirchenmännern immer wieder vertreten wurde: die Juden sind die Gottesmörder und haben Christus auf dem Gewissen. Gott hat sie deshalb verstoßen und die Christen sind jetzt an ihre Stelle getreten.

Ich gewann diesen Menschen lieb und erklärte ihm, ohne lang zu überlegen: „Wenn Christen Juden nicht lieben, sind sie keine wahren Christen.“ So radikal es sich anhört, aber ich glaube, das stimmt wirklich. Wie können wir verachten, was Gott wertschätzt? Wie können wir nicht lieben, was Gott liebt? Und Gott liebt sein erstes Volk immer noch und Jesus ist ja zuerst als Messias zu diesem Volk gekommen. Die ersten Christen waren Juden. Das Heil kommt von den Juden (Joh 4,22) und wir tun gut daran, diese Wahrheit in uns verankern zu lassen. 

Was würde das für unseren Glauben bedeuten? Für unsere Glaubenspraxis? Ich für mich habe festgestellt, dass Gott in mein Herz eine Liebe gelegt hat, die ich zuvor so nicht hatte. Ich ertappe mich immer öfter dabei, für Israel zu beten und es zu segnen. Ich bete um Schutz und dass sich Gottes Plan an diesem Volk erfüllt und dass sie „ihren Messias“ erkennen mögen. Und ich sehe eine zwingende Verantwortung, jedem Antisemitismus entschieden entgegenzutreten. Als Pfarrer bete ich seither auch in den Gottesdiensten öfter und bewusster für Israel. Es geht nicht darum, Israel nun zum Thema über alle(n) anderen Themen zu erheben. Aber uns von Gott selbst ansprechen und unseren Horizont erweitern zu lassen.

Thomas Bachmann

 

 

 

Albrecht Fietz

Datum

6. Juli 2023

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